Hintergrund

Aus dem ERC-Projekt „Narratives of Terror and Disappearance“, das die Wechselwirkungen von Erzählstruktur (Fantastik) und Terror durch das erzwungene Verschwindenlassen von Personen untersuchte, lassen sich wichtige Erkenntnisse ableiten, die bis zu einem gewissen Grad generalisierbar sind:

Bei der Methode und den gesellschaftlichen Folgen des erzwungenen Verschwindenlassens handelt es sich um einen Grenzfall dessen, was man allgemein als sozialpsychologische Folgewirkungen von Nicht-Information und/oder Fehlinformation von Angehörigen im unnatürlichen Todesfall beschreiben kann. Im Fall der argentinischen Militärdiktatur war die fehlgeleitete und verhinderte Kommunikation über den Verbleib der in (para-)staatlichem Auftrag ermordeten Regimegegner Teil der Terror-Strategie und wurde massenhaft (bis zu 30.000fach von 1974-1979) angewandt. Ungewissheit und damit Handlungsunfähigkeit in der Bevölkerung zu generalisieren, war Teil der Gewaltherrschaft.

Was sich in der Literatur, in den Zeugenberichten, in Interviews mit Angehörigen, im Theater, in der Nachbarschaft ehemaliger Geheimgefängnisse bis in die Gegenwart zeigt, ist eine lang andauernde und transgenerationell weiter tradierte gesellschaftlich wirksame Erschütterung der elementaren kulturellen Ordnungsparameter wie raumzeitliche Wahrnehmung und biografische Kontinuität. Statt diese Phänomene ausschließlich unter der Kategorie des Traumas zu fassen, das zweifellos in der individualpsychologischen Behandlung der Angehörigen von Verschwundenen diagnostisch dominant ist, ging es in unserer Untersuchung um eine vieldimensionale Erforschung der narrativen Gestaltung des Nicht-Wissens über Verbleib, Todesart, -Ort und –Datum der „Verschwundenen“. Wir haben uns zur Beschreibung der beobachteten Besonderheiten in mündlichen, schriftlichen und bildlichen Erzählformen des soziologisch-philosophischen Phänomens des „Haunting“ bedient, um besser die geisterhafte und oxymoronische (weder anwesende noch abwesende; weder tote noch lebendige) Wesens- und Wahrnehmungsform im Erleben des oft lang zurückliegenden Verschwindens  erfassen zu können.

Das Heimgesuchtwerden in unberechenbaren und oft als unheimlich beschriebenen Momenten der Wahrnehmung der „Verschwundenen“ wird wie eine alptraumartige Realität erlebt, in der Tote spuken, materielle Gegenstände Körperzeichen tragen (blutende Wände, sprechende Wasserhähne etc.) und Kommunikation unterlegt zu sein scheint durch einen gewaltvollen Subtext. Statt einen Trauerprozess zu beginnen, verharren die Angehörigen unter den Bedingungen des Nichtwissens und Nicht-Anerkanntwerdens in einer Art Zeitschleife. Die biografischen Episoden sind nicht mehr in eine lineare und kausale Reihe zu bringen. Es kann keine Kohärenz hergestellt werden. Die Selbst-Erzählungen bleiben in einem fantastischen Erzählmodus gefangen, der keine Integration in realistische Erzählmodi erlaubt. Dies ist jedoch die Voraussetzung für eine Verarbeitung des Traumas. In Argentinien kann auch heute noch das Haunting und die damit verbundenen Terroreffekte durch die anhaltende Ungewissheit der Angehörigen als ein gesellschaftlich und politisch relevanter Faktor betrachtet werden. 

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